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9. Bericht von Götz Schindler aus Israel

 
     
 

Kinder in den von Israel besetzten Gebieten in der Westbank

Der Jahresbericht 2007 der israelischen Menschenrechtsorganisation B`Tselem enthält einige Infor-mationen, die ein guter Ausgangpunkt für die Darstellung der Situation der Kinder (bis zu 18 Jahren) in den von Israel besetzten Gebieten in der Westbank sind.

Zum einen sind Kinder von "außergewöhnlichen" Vorkommnissen betroffen:

  • " Wenn israelische Soldaten Verhaftungen in einem Haus vornehmen, dürfen sie auf den Ver-dächtigen ohne Warnung und ohne Überprüfung der Identität mit scharfer Munition schießen, wenn er zu fliehen versucht, und zwar auch dann, wenn bekannt ist, dass sich Kinder und andere Zivilpersonen im Haus befinden.
  • " Im Jahr 2007 töteten israelische bewaffnete Einheiten in der Westbank und im Gaza-Streifen 379 Palästinenserinnen und Palästinenser, darunter 133 Zivilpersonen, von denen 54 Kinder waren.
  • " Im Jahr 2007 wurden die Menschenrechte auch auf palästinensischer Seite verletzt: Bei poli-tischen und militärischen Auseinandersetzungen zwischen Palästinensern wurden 346 Paläs-tinenserinnen und Palästinenser getötet, darunter 73 Zivilpersonen, von denen 23 Kinder waren.
  • " B`Tselem berichtet, dass Kinder, die von israelischen Soldaten verhaftet wurden, während des Arrests geschlagen und gefoltert wurden.

Darüber hinaus sind Kinder von "alltäglichen" Vorkommnissen betroffen. Prügel und Demütigungen von Palästinensern durch israelische Soldaten kommen in vielen Situationen des täglichen Lebens vor: z.B. wenn die Einschränkung der Bewegungsfreiheit durchgesetzt werden soll (wird beispielsweise jemand ertappt, der einen "checkpoint" umgehen will, für den er keinen Passierschein hat); während Hausdurchsuchungen, insbesondere, wenn nach Waffen gesucht wird (in der Regel wird dabei die Wohnungseinrichtung erheblich beschädigt); im Zusammenhang mit Festnahmen von Personen und bei der Auflösung von Demonstrationen.

Die aufgeführten Vorkommnisse finden häufig in der Gegenwart von Kindern statt, oder die Kinder erfahren durch Eltern, Freunde und Bekannte davon. Dadurch diese Erlebnisse erfahren sie, dass ihr Leben von Unsicherheit, drohender Gewalt und Gewaltanwendung bestimmt ist. "Am Ende wird die Angst Teil unseres Lebens. Sie stiehlt unsere Freiheit und führt dazu, dass wir uns nicht mehr sicher-fühlen, sie beraubt uns unserer Unschuld und Kindheit. Außerdem nimmt sie uns diejenigen, die uns nahestehen. Und so werden Traurigkeit und Einsamkeit in uns immer größer." (Mariam, 16 J., Our Voices, 2005, S. 15)

Außerdem, um nur noch auf einen weiteren Aspekt einzugehen, sind auch die Kinder durch die schlechte wirtschaftliche Lage in den besetzten Gebieten betroffen - zum einen durch die finanzielle Unsicherheit, in der Familie leben muss, zum anderen dadurch, dass sie darunter leiden, wenn ihr Vater arbeitslos wird oder seinen Arbeitsplatz nicht erreichen kann.

Das bedeutet, dass die Okkupation in der Westbank ein zentrales Merkmal im täglichen Leben nicht nur der Erwachsenen, sondern auch der Kinder ist. Um zu verdeutlichen, wie viele Menschen durch "außergewöhnliche" Ereignisse betroffen sind und was dies für die Kinder bedeutet: Von 1967 bis 2004 sind rund 600 000 Palästinenser von den israelischen Militärbehörden verhaftet worden und haben einige Zeit in israelischen Gefängnissen verbracht. In fast jeder palästinensischen Familie gibt es ein männliches Familienmitglied, das diese Erfahrung hinter sich hat. "Daher gehören Gefängniserfah-rungen zum Grundbestand der Geschichte des Volkes." (Cook; Hanieh; Kay, S. 7) "Die andere sehr schmerzliche Erfahrung, bei der ich mich so hilflos wie noch nie gefühlt habe, war, als israelische Sol-daten meinen Vater verhaftet haben. Es war das erste Mal, dass sie ihn verhaftet haben, und das hat dazu geführt, dass ich mich selber nicht mehr sicher fühle." (Noor, 15 J., Our Voices, S. 21)

Dass Kinder befürchten, verhaftet zu werden, ist nur zu verständlich, denn israelische Soldaten haben immer wieder Kinder verhaftet, zum Beispiel zwischen September 2000 und Juni 2003 mehr als 1 900. (Cook; Hanieh; Kay., S. 4) Im Jahr 2008 betrug die Zahl der Kinder in Militärgewahrsam monatlich zwischen 300 und 340, und im Februar 2009 waren es sogar 374. (www.btselem.org)

Auch um die berufliche Zukunft der Kinder in der Westbank und besonders in Jayyous ist es nicht gut bestellt. Es besteht für sie nur wenig Aussicht, später einen Passierschein zu bekommen, um das Land ihrer Familie hinter der Sperranlage zu bearbeiten, so dass für sie auch der Beruf des Landwirts kaum in Frage kommt. Die Aussichten in anderen Berufen sind in der Region sehr schlecht. Infolgedessen machen viele Kinder den Abschluss einer weiterführenden Schule (wenn sich die Eltern das finanziell leisten können), und danach studiert ein hoher Prozentanteil an einer Universität (meistens im Fern-studium) - aber nach dem Studienabschluss verlassen die meisten die Region. Sie sind "die Opfer der Strangulation durch Passierscheine, Einschüchterung und Isolation." (Dolphin, S. 101)

Was bedeutet das für die Kinder? Natürlich im Großen und Ganzen dasselbe wie für ihre Eltern: Erstens, dass das tägliche Leben unter absoluter und umfassender Kontrolle durch das Besatzungssystem steht; zweitens, dass die Kinder dem Besatzungssystem nicht weniger als ihre Eltern ausgeliefert sind; drittens, dass Hoffnung auf eine Veränderung ihrer Lage oder gar Widerstand illusorisch ist. Für die Kinder gibt es jedoch darüber hinaus besondere Einschränkungen. "Die Okkupation hat unsere Freiheit gestohlen: viele ´checkpoints´ und Barrieren, und oft haben wir lange Ausgangssperren. Dadurch fühlen wir uns, als würden wir in einem großen Gefängnis leben. Dadurch fühle ich mich unsicher und habe Angst, von zu Hause alleine wegzugehen." (Sanabel, 16 J., Our Voices, S. 20)

Einige Beispiele: Kinder können nicht eben mal ihre Freunde im Nachbarort besuchen, denn es könnte eine Ausgangssperre verhängt werden und es wäre in dieser Zeit nicht möglich, nach Hause zu-rückzukehren. Plätze in der Umgebung, an denen die Eltern in ihrer Kinderzeit gespielt haben, sind nicht mehr zugänglich, da sie hinter der Sperranlage liegen. Obwohl die Kinder an klaren Tagen von Jayyous aus das Mittelmeer sehen können, ist es ihnen nicht erlaubt, dorthin zum Baden zu fahren. Aufgrund der schlechten wirtschaftlichen Lage in der Westbank und der angespannten finanziellen Lage der Eltern müssen die meisten Kinder auf viele Dinge verzichten. Obwohl es sich nicht alle Eltern leisten können, ihre Kinder auf eine weiterführende Schule zu schicken, ist der Druck auf die Kinder, gute Schulleistungen zu erbringen, um sich keine Chancen auf gute Berufsaussichten außerhalb der Region zu verbauen. Spiele der Kinder haben nicht selten einen deutlichen realen Hintergrund, wenn beispiels-weise mit Steinschleudern gespielt bzw. "trainiert" wird (´Wir mit unseren Steinschleudern gegen die Soldaten mit ihren Gewehren.´).Kinder leben in ständiger Angst, dass es ihrem Vater nicht erlaubt werden könnte, das "gate" oder den "checkpoint" zu passieren, er seinen Arbeitsplatz verlieren könnte oder er sogar verhaftet werden könnte,. "Ich habe oft Angst, einen Familienangehörigen oder einen meiner besten Freunde zu verlieren. Mit dieser Angst kann ich nicht wie ein normales Kind leben." (Rana, 17 J., Our Voices, S. 18)

Insgesamt gesehen, ist das tägliche Leben der Kinder durch Einschränkungen, ständige Gefahr, Angst und Ungewissheit bestimmt. Ein Junge drückt das folgendermaßen aus: "Es ist wirklich so, dass die Besatzung dazu führt, dass wir unsere Kindheit vergessen und dass wir vergessen, wie man als Kind lebt." (Our Voices, S. 16) Mit Sicherheit ist es für Kinder schwieriger als für Erwachsene, mit den Be-dingungen der Okkupation zurechtzukommen. Das zeigen einige Ergebnisse der Untersuchung von Cook; Hanieh und Kay recht deutlich. Danach führt ein Leben unter ständigem Stress und ständiger Gefahr zur Beeinträchtigung der Fähigkeit, das tägliche Leben zu bewältigen, langandauernde Bezie-hungen einzugehen und Pläne für die Zukunft zu machen. Bei den Kindern sind Angst vor Soldaten und erhöhtes aggressives Verhalten weit verbreitet. Eine Untersuchung über die Symptome, die in der Region Qalqilia auf die Sperranlage zurückzuführen sind, stellte auch bei Kindern eine weite Verbreitung von Schlaf-und Ess-Störungen fest.

Wie wirkt sich das auf das Verhalten der Kinder aus? Bei der Beantwortung dieser Frage kann ich mich auf die Erfahrungen in der weiterführenden Schule für Jungen und im Kindergarten des Charity Centre in Jayyous beziehen. Der Direktor der Schule bestätigt im Großen und Ganzen die Ergebnisse der Untersuchungen. "Alle Kinder sind passiv durch die Präsenz der Soldaten, durch das Vorhandensein der ´gates´ und durch die Behandlung der Familie und der Eltern, die sie fast täglich erfahren, betroffen." Viele von ihnen haben erlebt, wie ihre Eltern von israelischen Soldaten gedemütigt, beschimpft, bedroht und sogar geschlagen wurden, insbesondere, wenn Häuser durchsucht wurden. Für sie sind israelische Soldaten Feinde, die Teil des Okkupationssystems sind, und keine Menschen, mit denen man etwas zu tun haben oder mit denen man reden möchte. Die Soldaten mit Steinen zu bewerfen, ist die häufigste Antwort der Kinder, vor allem der älteren unter ihnen. Sie ignorieren die Konsequenzen für sich selber (Festnahme und Verhör) und für die Leute im Dorf (z.B. wenn die Soldaten auf das Steinewerfen mit dem Einsatz von Tränengas antworten und dadurch Tiere getötet werden). Der Direktor der Schule versucht, seine Schüler davon abzuhalten, sich mit den Soldaten anzulegen. Ein anderer Lehrer sagt, er versucht sogar, die Schüler von der Teilnahme an der wöchentlichen Demons-tration gegen die Sperranlage abzuhalten: Sie sollten in dieser Zeit lieber lernen. Neben den "aktiven" gibt es die Kinder, die mit Rückzug und Niedergeschlagenheit reagieren. "Sie sind wie paralysiert", so der Direktor der Schule. Für ihn und seine Kollegen ist es schwierig, mit den Kindern über ihre Situation und Ängste zu sprechen, nur wenige können oder wollen darüber sprechen. Wie tief die Ängste sitzen, zeigt sich bereits im Kindergarten. In einem Projekt des YMCA wurden die Kinder gebeten, den Ort zu malen, an dem sie sich sicherfühlen: Nur wenige haben das Haus gemalt, in dem sie mit ihren Eltern leben. In einem anderen Projekt, vom Direktor der Schule initiiert, haben Kinder aller Altersstufen unter der Anleitung eines Künstlers an einer Mauer am Rathaus ein großes Wandbild gemalt. Das Thema der Aktion war "Man kann die Hoffnung nicht zerstören". Wie vielschichtig die Hoffnungen der Kinder sind, sieht man nicht nur an den unterschiedlichen Motiven des Wandbildes, sondern auch daran, dass der dargestellte Jeep der Militärpolizei mit Steinen beworfen wurde (die weißen Flecken auf dem Jeep).

Der Direktor der Schule versucht außerdem, mit den Eltern zusammenzuarbeiten, um den Kindern zu helfen. Nach seinen Erfahrungen ist das deshalb sehr schwierig, weil die Eltern selber unter der Folgen der Besetzung leiden und ihnen in vielen Fällen Zeit und Energie fehlen, sich mit den Problemen ihrer Kinder auseinanderzusetzen. Auch das Charity Centre und der Kindergarten versuchen, die Eltern zu unterstützen und den Kindern zu helfen. Eines der Projekte ist das bereits genannte Projekt des YMCA, mit dem den Kindern geholfen werden soll, ihre Ängste, aber auch ihre Hoffnungen auszudrücken.

Angesichts der schwierigen Verhältnisse, unter denen die Kinder hier aufwachsen, ist es erstaunlich, dass sich in Jayyous wie in der Westbank allgemein die Übergangsquote zu den weiterführenden Schulen in den letzten fünf Jahren bei rd. 90 % eingependelt hat (im internationalen Vergleich ein hoher Anteil). Darüber hinaus ist der Anteil der Schüler, der eine weiterführende Schule erfolgreich abschließt, von rd. 56 % (1995) auf knapp 70 % (2005) gestiegen. (www.passia.org) Diese Entwicklung zeigt, dass für die Zukunft der Kinder Bildung als wichtigste Hoffnung angesehen wird - eine Hoffnung, die sich allerdings angesichts der schlechten wirtschaftlichen Lage in der Westbank für nur wenige erfüllen kann, so dass sie de Region verlassen werden. Nichtsdestoweniger ist der Direktor der Schule der Meinung: "Wir versuchen, den Kindern andere Möglichkeiten zu eröffnen als Hoffnungslosigkeit oder Konfrontation mit den israelischen Soldaten."


Fotos: Wandbild an der Mauer auf dem Rathausgelände in Jayyous (April 2009)


Verwendete Quellen:
B`Tselem: Annual Report 2007
www.btselem.org
Catherine Cook; Adam Hanieh; Adah Kay: Stolen Youth, London and Sterling, Va., 2004
Defence for Children International: Our Voices, 2005
Ray Dolphin: West Bank Wall. Unmaking Palestine, London and Ann Arbor, Mi, 2006
www.passia.org

Bitte beachten: Ich bin tätig im Auftrag des Evangelischen Missionswerks in Südwestdeutschland (EMS) als ein Ökumenischer Freiwilliger für das Programm Ökumenischer Friedensdienst in Israel und Palästina (ÖFPI)/Ecumenical Accompaniment Programme in Palestine and Israel (EAPPI) des Weltkirchenrates (ÖRK). Dieser Text gibt nur meine persönlichen Ansichten wieder, die nicht unbedingt die des EMS und/oder des ÖRK sind. Wer diese Informationen verbreiten will unter Berücksichtigung des offiziellen Standpunkts der Organisationen, kann diese in Erfahrung bringen beim EMS-Nahostverbindungsreferenten Pfarrer Andreas Maurer (Maurer@ems-online.org) oder beim EAPPI Communication Officer in englischer Sprache (eappi-co@jrol.com). Danke.

Götz Schindler



 
 
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