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6. Bericht von Götz Schindler aus Israel

 
     
 

Bericht 6 aus Jayyous (2.3.2009)

Betlehem

Zum Erfahrungsaustausch zwischen den EAPPI-Teams besuchen wir zweimal während unserer Tätigkeit in Palästina ein anderes Team. Ich war in der zweiten Februarhälfte in Bethlehem. Mit einem meiner Kollegen vor Ort hatte ich einen Termin beim Bürgermeister, um EAPPI vorzustellen, aber auch um uns über die Situation der Stadt und ihre Probleme zu informieren. Danach haben wir das Flüchtlingslager Aida besucht.

Vor meiner Fahrt nach Bethlehem hatte ich hier im Haus einen Reiseführer "Israel" eines bekannten deutschen Automobilclubs aus dem Jahr 2006 entdeckt. Zur Situation Bethlehems wird man immerhin darüber informiert, dass sich die Stadt auf der von Israel besetzten Westbank befindet. Dagegen werden mit keinem Wort erwähnt: die Sperranlage, von der die Stadt an drei Seiten umgeben ist bzw. nach Fertigstellung der Sperranlage umgeben sein wird, und der "checkpoint 300", den die Menschen passieren müssen, wenn sie morgens - nein: nachts, wegen der langen Warte- und Abfertigungszeiten am "checkpoint" - dort anstehen, um an ihren Arbeitsplatz in Jerusalem gelangen zu können und abends, wenn sie von dort zurückkommen. Bethlehem wird im Kapitel "Rund um Jerusalem: Burgen, Berge, Biblisches" recht stiefmütterlich abgehandelt. Entsprechend haarsträubend ist dann auch die Empfehlung am Ende des Abschnitts: "Angesichts der angespannten politischen Lage sind die Telefonleitungen oft gestört. Man sollte den Ausflug nach Bethlehem von Jerusalem aus machen." Genau das ist es, was den Menschen in Bethlehem zu schaffen macht: Die Touristen werden von den Reiseveranstaltern von Jerusalem aus für einen Nachmittag nach Bethlehem geschafft, besichtigen die Geburtskirche, werden in den Laden eines Großanbieters von Andenken und Devotionalien aus Olivenholz gekarrt und sind am Abend wieder in Jerusalem. Nur wenige Touristen bleiben mehrere Tage in Bethlehem. Seit Beginn der israelischen Okkupation habe die Entwicklung des Fremdenverkehrs außerordentlich gelitten, so der Bürgermeister. Vor Beginn der zweiten Intifada im Jahr 2000 kamen eine Million Touristen jährlich nach Bethlehem, gegenwärtig sind es nur noch etwa 300 000. Für die Menschen in der Stadt, von denen nach Aussagen der Stadtverwaltung 55 % vom Fremdenverkehr leben, hat das erhebliche Einkommensverluste zur Folge, zumal auch das Kunstgewerbe (vor allem Gegenstände aus Olivenholz) weitgehend vom Fremdenverkehr abhängig ist.

Der erwähnte Reiseführer und die meisten Reiseveranstalter folgen offensichtlich der offiziellen israelischen Sprachregelung: Bethlehem wird praktisch als Vorort von Jerusalem betrachtet. Steht man am "checkpoint 300", um nach Jerusalem zu gelangen, liest man ein großes Schild mit der Aufschrift "Welcome to Jerusalem" - Jerusalem ist immerhin 10 km entfernt. Tatsächlich ist die Stadtgrenze von Jerusalem erheblich ausgedehnt worden, und außerdem haben Stadt und Distrikt Bethlehem durch die Konfiszierung von Land für jüdische Siedlungen, Straßen für die jüdischen Siedler, militärische Sperrgebiete, "Naturreservate" (die oft gar keine sind) und die Sperranlage erheblich an Fläche verlo-ren. Und zwar ist der Distrikt Bethlehem nach Angaben des Bürgermeisters dadurch von 576 km² auf 80 km² geschrumpft.

Für die Entwicklung Bethlehems und die Zukunft ihrer Menschen ist die Sperranlage das größte Hin-dernis, unter ihr leiden sie am meisten. Auch hier folgt die Sperranlage nicht der Waffenstillstandslinie von 1949 ("green line"). Wie in Jayyous haben auch hier viele Bauern ihr Land verloren (insg. 7 000 dunums - 1 dunum=1 000 m²) oder es ist für sie nur unter großen Erschwernissen erreichbar. Davon sind mehr als 120 Familien betroffen. Für den Fremdenverkehr hat sich die Tatsache negativ ausgewirkt, dass Rachels Grab durch die Sperranlage von seinem natürlichen Umfeld abgeschnitten und nach Jerusalem "eingemeindet" wurde. Zugleich wurden durch die Sperranlage die historisch gewachsenen Beziehungen Bethlehems zu Jerusalem abgeschnitten und Stadt, Gewerbe und Unter-nehmen die Möglichkeit eines organischen Wachstums genommen. Die Folge sind die Schließung von über 100 Gewerbebetrieben, Geschäften und Restaurants seit 2000, eine Arbeitslosenquote von zwischen 55 % und 60 % sowie der Rückgang des jährlichen pro-Kopf-Einkommens von 2 400 $ vor dem Jahr 2000 auf 400 $ im vergangenen Jahr - so in einer Ausarbeitung der Stadtverwaltung. Negativ auf die Entwicklung der Stadt wirkt sich auch die hohe Auswanderungsquote aus, weil vor allem gut Ausgebildete gehen, die in der Stadt Bethlehem und im Distrikt Bethlehem keinen Arbeitsplatz finden. Das betrifft vor allem die Christen unter der Bevölkerung, so dass ihr Anteil auf 40 % gesunken ist. Besonders aber betont der Bürgermeister die Beschränkung der Bewegungsfreiheit der Menschen durch die Sperranlage, die sich auf alle Lebensbereiche und die wirtschaftliche Entwicklung negativ auswirke. Im Grunde sei Bethlehem ein "großes offenes Gefängnis".

Das ist keine übertriebene Einschätzung eines Betroffenen, der darunter leidet, dass "seine" Stadt besonders schlecht dasteht. Die Weltbank stellt in ihrem Bericht "Growth in West Bank and Gaza: Opportunities and Constraints" vom Sept. 2006 fest, Israels Okkupationspolitik sei für den starken Rückgang der wirtschaftlichen Aktivität, den Anstieg der Arbeitslosigkeit und die Zunahme der Armut verantwortlich. Das trifft m.E. immer noch zu. Erstens hat sich an dieser Politik seither nichts Grund-legendes geändert. Zweitens darf man sich durch kleine Verbesserungen auf dem Arbeitsmarkt, z.B. durch vorübergehenden erhöhten Arbeitskräftebedarf auf Grund verstärkter Bautätigkeit in den jüdi-schen Siedlungen, nicht täuschen lassen. Die Ausgangsbasis ist schlecht: Die Arbeitslosenquote hat sich lt. Mitteilung des Palästinensischen Statistikbüros seit Ende 2007 weiter erhöht, insbesondere im Raum Bethlehem und im gesamten Süden des Westjordanlandes, wo sie nach wie vor weit über dem Durchschnitt liegt.

In Bethlehem gibt es drei Flüchtlingslager, in denen insgesamt 18 000 palästinensische Flüchtlinge leben. Eines davon ist das Flüchtlingslager Aida. Dort leben ca. 4 700 palästinensische Flüchtlinge auf einer Fläche von 5 000 m². Über dem Eingangstor ist ein riesiger Schlüssel angebracht worden, der daran erinnert, dass die Flüchtlinge bei der Vertreibung aus ihren Häusern die Schlüssel mitgenommen haben, um ihren Besitzanspruch zu dokumentieren und eines Tages zurückzukehren. Der Aufdruck auf dem Schlüssel ("Not for sale") unterstreicht, dass sie diesen Anspruch nicht aufgeben wollen.

Im Flüchtlingslager zunächst das "typische" Bild: enge Gassen, mehrstöckige graue Häuser, wenig Farbe, keine Grünflächen und Kinder, die in den Gassen spielen. In einem kleinen Lebensmittelgeschäft trafen wir Kholoud und ihren Mann Aiman, die mit ihren vier Kindern über dem Geschäft wohnen. Sie luden uns zum Kaffe ein. Aus der "Tasse Kaffee" wurden dann noch Tee und Kuchen, der gerade gebacken wurde, als wir die Wohnung betraten. Die Familie hatte zunächst in dem Raum gewohnt, in dem sich jetzt das Lebensmittelgeschäft befindet. Als Aimans Bruder die Idee hatte, das Geschäft zu eröffnen, konnten sie einen kleinen Kredit aufnehmen, mit dem sie begannen, das Obergeschoss auszubauen, in dem sie nun wohnen. So viel Eigeninitiative hatten wir mit unseren Vorstellungen über das Leben in einem Flüchtlingslager nicht unbedingt erwartet. Aber sie ist kennzeichnend für diese Familie: Die Kreditgewährung wurde dadurch erleichtert, dass Aiman berufstätig ist. Zunächst hatte er eine Stelle in Jerusalem gehabt, die er jedoch nach Beginn der zweiten Intifada verlor. Seit ein paar Jahren arbeitet er als Fahrer im Bildungsministerium der Palestinian Authority. Ganz erstaunlich ist die Lebensgeschichte von Kholoud. Ihre Großeltern kamen in das Flüchtlingslager, nachdem ihr Dorf 1948 zerstört worden war. Ihre Mutter wuchs in Aida auf, und Kholoud wurde hier geboren. Sie heiratete, als sie knapp fünfzehn Jahre alt war und die Schule noch nicht abgeschlossen hatte. In den nächsten zehn Jahren wurden drei Kinder geboren. Dann holte sie zunächst ihren Schulabschluss nach, studierte und schloss ihr Studium an der Universität Bethlehem mit dem Bachelor-Grad ab. Gegenwärtig hat sie eine Teilzeitstelle als Sozialarbeiterin und studiert Erziehungswissenschaft in einem Master-Studiengang. Ihr Mann meinte, irgendwann werde er sie wohl mit "Frau Doktor" anreden müssen. Er wie auch ihre Mutter unterstützen Kholouds Weiterbildung und das Studium voll und ganz. Sie zeigte uns voller Stolz die Fotos der Feier zur Verleihung des Bachelor-Grades, auf denen auch Aiman und ihre Mutter zu sehen sind.

Kholoud und Aiman mit ihren Kindern sind sicher keine "typische" palästinensische Flüchtlingsfamilie, aber auch kein Einzelfall. An ihrem Beispiel lässt sich einiges zur Situation der palästinensischen Flüchtlinge aufzeigen. Zu ihnen zählen nicht nur die knapp 730 000 Palästinenser, die wie Kholouds Großmutter zwischen 1947 und 1949 vertrieben wurden oder im Zusammenhang mit den Kämpfen vor und nach der Gründung des Staates Israel flohen, sondern auch ihre Nachkommen. Insgesamt sind das gegenwärtig ca. 5, 5 Millionen Menschen*. Etwa ein Viertel von ihnen leben in von der UN-Hilfsorganisation UNRWA unterhaltenen Flüchtlingscamps in den von Israel besetzten palästinensischen Gebieten, z.B. im Camp Aida in Bethlehem (UNRWA unterhält insgesamt 59 Camps für palästinensische Flüchtlinge). Unterstützung durch die UNRWA erhalten rd. 4,2 Millionen. Dabei handelt es sich nicht nur - wie in der Öffentlichkeit oft vermutet - lediglich um Lebensmittelhilfen, sondern vor allem um die Bereitstellung von Schulunterricht - auch im Camp Aida gibt es eine Schule der UN - , ärztliche Versorgung, Kleinkredite zur Existenzgründung sowie Beratung und finanzielle Unterstützung für bedürftige Familien, z.B. Alleinerziehende. Dass nur 6 % der registrierten palästinensischen Flüchtlinge die zuletzt genannte Unterstützung bekommen, lässt darauf schließen, dass Erwerbstätigkeit unter den Flüchtlingen keine Ausnahme ist. Dabei muss man berücksichtigen, dass die schlechte wirtschaftliche Lage in den besetzten Gebieten nicht unbedingt gute Erwerbschancen bietet. Das Ziel der UNRWA-Hilfe ist es, die materielle Grundlage dafür zu schaffen, dass die Menschen wieder Selbstvertrauen gewinnen und Eigeninitiative entwickeln können. Dass das ein richtiger Ansatz ist, zeigt das Beispiel von Kholoud und ihrer Familie.

Die meisten palästinensischen Flüchtlinge, die in den Camps leben, haben keine Möglichkeit, in ihre Heimatorte zurückzukehren. Denn über 500 palästinensische Orte wurden während des Krieges 1948 entvölkert und später zerstört (das sind drei Viertel aller palästinensischen Orte, die von den israeli-schen Streitkräften nach Ende des Krieges besetzt waren), so dass eine Rückkehr ihrer Bewohner in ihre Heimatorte unmöglich gemacht wurde. Außerdem verweigert Israel ihnen das in der UN-Resolution 194 vom 11.12.1948 geforderte Recht auf Rückkehr in ihre Heimat und auf Entschädigung, wenn sie nicht in ihre Heimat zurückkehren wollen oder können. Diese Resolution ist übrigens seit ihrer Verabschiedung in jedem Jahr durch die UN-Vollversammlung bestätigt worden. Die israelischen Regierungen haben sich bisher davon unbeeindruckt gezeigt.

 

*Daneben gibt es ca. weitere 1,5 Millionen palästinensische Flüchtlinge, die meisten von ihnen seit dem Krieg 1967, d.h. insgesamt somit rd. 7 Millionen.


Fotos


Jüdische Siedlung Har Homa nordöstlich von Bethlehem


Eingangstor zum Flüchtlingslager Aida in Bethlehem


Bitte beachten: Ich bin tätig im Auftrag des Evangelischen Missionswerks in Südwestdeutschland (EMS) als ein Ökumenischer Freiwilliger für das Programm Ökumenischer Friedensdienst in Israel und Palästina (ÖFPI)/Ecumenical Accompaniment Programme in Palestine and Israel (EAPPI) des Weltkirchenrates (ÖRK). Dieser Text gibt nur meine persönlichen Ansichten wieder, die nicht unbedingt die des EMS und/oder des ÖRK sind. Wer diese Informationen verbreiten will unter Berücksichtigung des offiziellen Standpunkts der Organisationen, kann diese in Erfahrung bringen beim EMS-Nahostverbindungsreferenten Pfarrer Andreas Maurer (Maurer@ems-online.org) oder beim EAPPI Communication Officer in englischer Sprache (eappi-co@jrol.com). Danke.


Götz Schindler



 
 
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